Verschwörungstheorien als Feigenblatt
Nun könnte man meinen, die beiden Herren auf den Fotos hätten angesichts der unzweideutigen Situation einfach einräumen sollen, Fehler gemacht zu haben, und erklären können: »Unsere Veranlagung ist aber kein Verbrechen und wir bemühen uns in Zukunft, unserer Verantwortung gerecht zu werden.«
Doch nichts dergleichen geschah: Während der ehemalige Regens sich in ein Stift zurückzog und es im kirchlichen Milieu sehr still um ihn wurde, beschritt der Gänswein-Freund einen etwas anderen Weg. Er wies alle Vorwürfe entschieden zurück und bezeichnete die Interpretation der Fotografien als Missverständnis. Der Eindruck, es handle sich um einen innigen Zungenkuss, beruhe auf einer optischen Täuschung; in Wirklichkeit zeige das Foto den Austausch eines »Pax«, wie er in kirchlichen Kreisen - zumal unter jüngeren Männern - in und außerhalb der Liturgie weithin üblich sei. Auch die These, das Foto sei eine Fotomontage, brachte der Subregens zeitweise ins Gespräch. Die Orte, an denen er sich öfter in Zivilkleidung aufgehalten habe, ein von den Visitatoren für einen Homosexuellentreffpunkt gehaltenes Fitnessstudio sowie der Wiener Westbahnhof, habe er aus ehrenwerten Gründen der körperlichen Ertüchtigung oder kultureller Aktivitäten aufgesucht.
Die kirchlichen und zivilen Richter scheint diese Argumentation allerdings nicht überzeugt zu haben. Seine Versuche, gegen die Interpretation der Fotos sowie die anderen Enthüllungen der Medien zivilrechtlich und gegen die Beschlüsse der Visitation, besonders seine Suspendierung, kirchenrechtlich vorzugehen, scheiterten.
Und doch gelang es, eine Wende in seinem Fall herbeizuführen, und zwar, indem man sich einer ganz anderen, immer wieder erfolgreichen Methode bediente: Die Enthüllung sowie die nachfolgende Visitation wurden vom konservativen Freundeskreis des promovierten Kirchenrechtlers als Komplott liberaler Kirchenfürsten gegen den streitbaren, authentisch katholischen und papsttreuen Kurt Krenn und sein sehr erfolgreiches Priesterseminar umgedeutet. Mit Hilfe falscher Unterstellungen habe man St. Pölten liquidieren wollen. Zu dem Zweck sei Krenn schon im Vorfeld ausgiebig bespitzelt worden.
Hinter den Kulissen des Kampfes gegen die angebliche modernistische Verschwörung setzte bei einigen der von der Visitation der Homosexualität »Beschuldigten« ein auffälliger Sinneswandel ein. Der promovierte Kirchenrechtler und die Seinen hatten zu einem extrem homophoben Umfeld gehört, und nun machte sich die Erkenntnis breit, dass die Homophobie auch auf die Homophoben selbst zurückfallen kann. Einer, der den Fall aus nächster Nähe kannte, schrieb mir damals: »Man muss feststellen, dass es bei der Causa St. Pölten überhaupt nicht um Homosexualität geht, denn in beiden Fronten finden sich zahlreiche Schwule. Letztlich wäre das gar nicht weiter bemerkenswert, wenn sich Homosexualität aufgrund der derzeitigen Stimmung in der Kirche nicht perfekt als Waffe eignen würde, um unliebsame Leute abzuschlachten.« Und dann erstaunlich moderate Töne, wie sie zuvor in diesem Milieu noch als Andienen an den Zeitgeist abgelehnt worden wären: »Ob jemand homosexuell ist oder nicht, ist meines Erachtens objektiv ohne Interesse und Belang. Worauf es ankommt, ist vielmehr, ob jemand Charakter, Anstand und Disziplin hat, ob er treu, hilfsbereit und barmherzig ist, und schließlich, ob er im Umgang mit seinem Nächsten - unabhängig von dessen Rasse, Religion, sexueller Vorliebe oder was auch immer - dem Beispiel Jesu zu folgen sucht.«
In der Öffentlichkeit wurde aber natürlich gerade nicht so argumentiert. Das wäre sonst vielleicht ein wirklicher Befreiungsschlag geworden. Stattdessen hieß es, im Gegensatz zum offiziellen kirchlichen Urteil, aus dem ultrakonservativen Umfeld des promovierten Kirchenrechtlers, an den Vorwürfen sei in keiner Weise etwas dran. Wie könne man so frommen und traditionsgetreuen Priestern unterstellen, homosexuell zu sein? Das sei doch schlicht undenkbar! Wenn es so etwas wie homosexuelle Priester überhaupt gebe, dann höchstens bei den Liberalen, aber doch nicht bei denen, die sich immer so klar gegen alles, was mit Homosexualität Zusammenhänge, ausgesprochen hätten!
Beim Umgang gewisser Kreise mit dem Skandal von St. Pölten fühlte man sich immer wieder an Christian Morgenstern und sein Gedicht über Palmström erinnert, das literarische Paradigma des Spießers schlechthin:
»Und er kommt zu dem Ergebnis:
>Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil<, so schließt er messerscharf,
>nicht sein k a n n, was nicht sein d a r f.<«
Besonders die bereits erwähnte Verlegerin des Komm-Mit-Verlags, Felizitas Küble, reagierte sehr schnell und verbreitete in ihrem Pressedienst in diese Richtung gehende Thesen. Es folgte der pensionierte Studienrat Reinhard Dörner, den ich von den Herrenabenden kannte und der zusammen mit Frau von Stockhausens Sekretärin, Dr. Gabriele Waste, in einem im Selbstverlag erschienenen Buch mit dem Titel Der Wahrheit die Ehre das Panorama einer anti-konservativen Verschwörungstheorie gegen Bischof Krenn und seine engsten Mitarbeiter entwarf.
Dass manche dabei die Ereignisse so verbogen, dass sie in das Verschwörungskonzept passten, und zu dem Zweck auch schwere Unrichtigkeiten in Kauf nahmen, zeigte kurz darauf der (ebenfalls konservative und Krenn nahestehende) Moraltheologe Josef Spindelböck auf.
Auch der promovierte Kirchenrechtler mutierte vom eher gemäßigt Konservativen zum überzeugten Anhänger der traditionalistischen Liturgie und publizierte in extrem konservativen Blättern wie der Una Voce-Korrespondenz. Das half ihm, seinen »integren Ruf« wiederzuerlangen. Selbst die zuvor noch so ablehnend eingestellte Fördergemeinschaft von Theologisches ließ sich von dieser Entwicklung und seinem kirchenpolitisch hervorragend ins Konzept passenden Status als Märtyrer des Antimodernismus überzeugen. Man hob das Schreibverbot für den promovierten Kirchenrechtler auf, der mir nun auch wieder eifrig Artikel zuschickte. Dieser Publikationsort, der auch im Vatikan aufmerksam und mit Sympathie verfolgt wurde, dürfte für seine Rehabilitation von entscheidender Bedeutung gewesen sein.
Schon im Herbst 2008 ließ man das nur wenige Jahre zuvor vom Vatikan ausdrücklich bestätigte und als »endgültig« bezeichnete Berufsverbot für den promovierten Kirchenrechtler still und heimlich fallen, und der Gänswein-Vertraute tauchte in der ehemaligen Diözese des heutigen Papstes als Geistlicher in der Seelsorge wieder auf, wo er bis heute tätig ist.
Der Sexskandal von St. Pölten wurde hier so ausführlich geschildert, weil er die erste bedeutende Frucht der eingangs erwähnten römischen Weisung zum Thema Homosexualität und Priesteramt ist. An ihm werden die Folgen, die eine solche Weisung nicht nur für Kleriker, sondern auch für homosexuelle Laien in der Kirche hat, in allen Facetten deutlich.
Die Kirche verstößt in diesem neuen Dokument gegen ihre offizielle, noch 1993 im Weltkatechismus formulierte Doktrin, dass homosexuell veranlagten Menschen »mit Takt zu begegnen« sei und sie in »keiner Weise ungerecht zurückzusetzen« seien. Die Diskriminierung homosexuell veranlagter Priester und die daraus folgende »ungerechte Zurücksetzung« aller schwulen Männer wird in dem Dokument von 2005 geradezu zum Programm erhoben. Entweder hat die Kirche ihre Position bezüglich einer für sie offensichtlich zentralen Frage innerhalb weniger Jahre grundlegend geändert (was ihrem eigenen Traditionsverständnis widerspräche), oder die Toleranz des Weltkatechismus war pure, strategisch begründete Scheinheiligkeit, die nicht das wirkliche Denken der Kirche spiegelte.
Was im Vorfeld des St. Pölten-Skandals auch immer abgelaufen sein mag, ob es tatsächlich eine geplante Aktion war, um Krenn loszuwerden, oder nicht - Tatsache ist, dass das vatikanische Dokument wie kein zweites dazu geeignet ist, unliebsame Personen wegzumobben. Damit steht es in der unseligen Tradition der Hexenbulle Papst Innozenz’ VIII. sowie des Hexenhammer; das im 15. Jahrhundert erschienene Buch diente zusammen mit der Weisung des Papstes über Jahrhunderte zur Legitimation der Hexenverfolgung.
Die Verfasser und Unterzeichner dieser Instruktion zum Thema Priesteramt und Homosexualität wissen natürlich genau, wie viele schwule katholische Priester und Priesteramtskandidaten es gibt. Wer den hungrigen und durstigen Gästen an einem reich gedeckten Tisch nicht nur das Essen und Trinken streng verbietet, sondern auch schon das Bedürfnis nach Speise und Trank unter Strafe stellt, wird immer zahlreiche »Verbrecher« zur Auswahl haben. Wenn einer dieser vielen Priester seinen Vorgesetzten, aus welchem Grund auch immer, unangenehm auffällt, haben diese durch die neue kirchliche Rechtsprechung alle Machtmittel in der Hand, um den Renitenten gefügig zu machen und ihm die Möglichkeit zur Selbstverteidigung zu nehmen. Ohne dass er jemals eine homosexuelle Handlung ausgeführt haben muss, genügen bereits seine bloße Veranlagung oder seine Sympathien für eine aus solcher Veranlagung entstandene Kultur, um ihm ganz klar zu sagen: »Du hast gar kein Recht, Priester zu sein! Du bist ein nicht abzuschätzendes Sicherheitsrisiko für unsere Kirche!«
Diese düstere Ausgangslage ist die Basis für die kirchenamtlich umfangreich praktizierte Bigotterie. Dem heiligen Schein zufolge gibt es offiziell keine homosexuellen Priester mehr. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem hohen Kirchenfürsten, der mich kurz nach Publikation des römischen Dokuments zum Tee eingeladen hatte, um mich in meiner Arbeit als Herausgeber von Theologisches zu bestärken. Irgendwann kamen wir auf das Thema »Homosexualität und Priestertum« zu sprechen. Dabei versicherte er mir voller Pathos, er lege seine Hände dafür ins Feuer, dass er noch niemals einen homosexuell veranlagten Mann zum Priester geweiht habe. Es sei ihm ein zentrales Anliegen, genauestens darauf zu achten, dass die Priester seiner Diözese gesunde und natürliche Männer seien, die unter anderen Umständen auf jeden Fall eine Familie gegründet hätten.
Ich kannte etliche Priester, die von ihm geweiht worden waren, wusste daher auch, dass der Anteil homosexuell Veranlagter unter ihnen genauso erstaunlich hoch war wie in anderen europäischen Diözesen auch.
Anfangs hielt ich den Bischof einfach nur für naiv, je mehr ich mich aber mit den Priestern seiner Diözese über seine Art zu regieren unterhielt, desto klarer wurde mir: Der schöne Schein diente hier, wie in den meisten anderen Fällen auch, dem Machterhalt der herrschenden Autorität. Wer in dieser Märchenwelt mitspielt, wird dadurch belohnt, dass er unbehelligt bleibt, selbst wenn er sich gewisser Vergehen schuldig macht - sofern er kirchenpolitisch richtig eingenordet ist.
Die bei konservativen Bischöfen verbreitete Haltung, Homosexualität in der Kirche zu negieren, erinnert an Gepflogenheiten in diktatorischen Gottesstaaten wie dem Iran oder im faschistischen Italien unter Benito Mussolini. Als der iranische Präsident Ahmadinedschad bei einem Besuch in New York vor einigen Jahren auf die Verfolgung von Homosexuellen in seinem Land angesprochen wurde, antwortete^ er, so etwas gebe es dort nicht, und zwar ganz einfach deshalb, weil es keine Homosexuellen gebe. Ähnlich hatte sich viele Jahre zuvor der »Duce« ausgedrückt: »In Italien gibt es nur echte Männer!« Besagter Bischof hatte das Wort »echt« lediglich durch »gesund« ersetzt.
Warum also hätten die Priester aus St. Pölten ehrlich ihre homosexuelle Veranlagung einräumen sollen, wenn dies doch das Ende ihres Berufes und damit aller wirtschaftlichen Sicherheit bedeutet hätte? Ist es nicht verständlich, dass sie es vorzogen, dem Wunsch nach oberhirtlich verordneter Illusion nachzugeben und einfach mitzuspielen?
Welcher junge Mann, der unbedingt Priester werden möchte, wird angesichts dieser Lage noch offen mit seinen Ausbildern reden, um mit ihnen speziell auf ihn zugeschnittene Wege zu suchen, wie er den Zölibat leben kann? Welcher Priester; der homosexuell veranlagt ist, wird sich seinem Bischof oder anderen Mitbrüdern anvertrauen, damit diese ihm helfen können, mit seiner Homosexualität verantwortungsvoll umzugehen?
Wer klug ist und wem sein Beruf etwas bedeutet, der wird es unter den derzeitigen Umständen nicht tun. Stattdessen wird er die Strategien der Vertuschung und Verheimlichung nach außen und der Sublimierung im Privaten weiter verfeinern. Das Verhältnis von Klerikern untereinander und zu den ihnen anvertrauten Gläubigen baut so auf einer prinzipiellen Unredlichkeit auf und steht von Anfang an unter dem Vorzeichen der Lüge, die die theologische Tradition als die Mutter aller Sünden bezeichnet.
Dass durch diese Scheinheiligkeit und die damit einhergehende Vertuschungstaktik erst die »negativen Folgen« entstehen, die das römische Dokument durch homosexuelle Priester gegeben sieht, ist offensichtlich. Hier gibt es dann doch einen Zusammenhang zwischen dem kirchlichen Umgang mit Homosexualität auf der einen und Kindesmissbrauch auf der anderen Seite, auch wenn er sich ganz anders darstellt, als es die Kirchenfürsten bei ihrer Suche nach Sündenböcken gerne hätten: Beide Probleme werden durch Vertuschung und Heimlichtuerei enorm verstärkt.
So wie die Vertuschung von Homosexualität seit 2005 direkt gefördert wird, so war sie bezüglich des Missbrauchs von Schutzbefohlenen in der katholischen Kirche seit 2001 ausdrücklich vorgeschrieben. In dem Jahr veröffentlichte die vatikanische Glaubenskongregation ein von Kardinal Ratzinger verfasstes Schreiben an die katholischen Bischöfe in aller Welt, [45] in dem Missbrauchsfälle grundsätzlich unter das Gebot päpstlicher Geheimhaltung gestellt werden. Das bedeutet: Die Bischöfe durften solche Fälle unter schwerster kirchlicher Strafandrohung weder veröffentlichen noch an ein weltliches Gericht weitergeben, sondern nur direkt im geheimen kirchlichen Kreis klären lassen. [46] Dahinter steht das mittelalterliche Denkmodell, nach dem ein Kleriker nur von höher gestellten Klerikern, niemals aber von Laien, seien sie nun Bundeskanzler oder Staatsanwalt, gerichtet werden darf.
Dazu passt dann auch, dass das Schreiben den sexuellen Missbrauch von Kindern auf eine Stufe stellt mit der Weihe von Frauen zu Priestern. Auch wenn die deutschen Bischöfe inzwischen unter dem Druck der Öffentlichkeit eigene Richtlinien erlassen haben, ist es interessant, dass Papst Benedikt noch immer ganz in dem Denken von damals verhaftet ist. In seinem Brief an die irische Kirche vom 19. März 2010, [47] in dem er sich zu den Missbrauchsfällen äußert, fordert er nun zwar zu einer Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen auf, sieht das größte Problem aber darin, dass durch das Bekanntwerden der Vergehen die Kirche in Irland Schaden genommen habe und der Respekt vor den kirchlichen Autoritäten gesunken sei.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Das Problem der katholischen Kirche sind nicht homosexuell veranlagte Priester, sondern die Tatsache, dass sie gezwungen werden, ihre Homosexualität krampfhaft zu verheimlichen, und dass noch die unheiligsten Taten systematisch mit einem heiligen Schein überklebt werden.